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  • Vom mündigen zum verunsicherten Patienten

    Vom mündigen zum verunsicherten Patienten?

    Wie sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten durch das Internet verändert hat.

Früher galten Ärzte als Halbgötter in Weiß, heute sehen sich viele Patienten eher auf Augenhöhe mit ihren Ärzten. Wesentlich dazu beigetragen hat das Internet: Hier können sich Kranke ohne großen Aufwand selbst informieren – und rennen dabei alle zum selben Arzt: Dr. Google. Im Optimalfall hilft uns der Suchmaschinengigant mit den richtigen Ergebnissen dabei, mündige Patienten zu werden – oft trägt er aber auch zur Verunsicherung bei.

Der informierte Patient

Wir kennen es alle: Irgendwo drückt und schmerzt es, der Husten will einfach nicht verschwinden oder dieses eine Muttermal scheint im letzten Monat doppelt so groß geworden zu sein. Wenn man sich Sorgen um seine Gesundheit macht, sollte man direkt einen Arzt aufsuchen. Häufig jedoch ist der Arztbesuch erst der zweite Schritt. Vorher informieren wir uns erst einmal selbst. Das an fast jedem Ort und zu fast jeder Zeit verfügbare Internet ermöglicht es uns, Google und andere Suchmaschinen nach unseren Symptomen zu befragen. Und sie verleiten uns dazu, eigenständig die erste Diagnose auszustellen, ohne einen Arzt aufgesucht zu haben.
„Viele Patienten kommen mit ihren ausgedruckten Suchergebnissen zu mir in die Arztpraxis“, hat auch Michael Gurr beobachtet. Er ist seit 15 Jahren niedergelassener Arzt im pfälzischen Eisenberg und hat vorher an Kliniken gearbeitet. „Ich mag es ganz gerne, dass Patienten sich schon vorher informieren. Aber es kann auch zu Verunsicherungen führen, weil Betroffene bei ihren Recherchen oft negativ selektieren. Dann kann ich das meist relativieren, weil ich die Patienten und ihre Vorgeschichten seit Jahren kenne.“
Mit diesen Erfahrungen ist Gurr nicht alleine. Laut „Patienten-Radar 2018“, für den 2.000 Bundesbürger befragt wurden, informieren sich zwei von drei Patienten vor oder nach ihrem Arztbesuch im Internet zu Gesundheitsthemen. 60 Prozent sehen sich zudem auf Augenhöhe mit ihren Ärzten. Medizinische Befunde und Empfehlungen hinterfragen und diskutieren sie gemeinsam. Doch auch, wenn die Patienten insgesamt kritischer geworden sind: Laut einer Versichertenbefragung der Kassenärztliche Bundesvereinigung geben 90 Prozent an, ein gutes oder sogar sehr gutes Vertrauensverhältnis zu ihrem Arzt zu haben.

Dank Internet zum Arzt des Vertrauens

Aber nicht nur bei der Recherche nach Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten gehen die Deutschen mittlerweile online – schon bei der Wahl des Arztes informieren sich Patienten ganz genau. Wurden früher Familie oder Freunde um Rat gefragt, schaut man sich heute die Ärzte-Bewertungen in Online-Portalen an. Allein der deutsche Marktführer Jameda verzeichnet jeden Monat mehr als sechs Millionen Besucher. Und der Einfluss ist entsprechend groß: Wer sich online die Bewertungen anschaut, hört mehr auf sie als auf die Empfehlungen von Bekannten – das hat zumindest eine Befragung unter Jameda-Nutzern ergeben. „Das ist vielleicht damit zu begründen, dass man nicht für jedes Anliegen jemanden in seinem Freundeskreis kennt, den man um Rat fragen kann oder will – entweder, weil es ein sehr spezielles oder weil es ein zu intimes Thema ist“, erklärt Jameda-Sprecherin Kathrin Kirchler.
Aber Online-Bewertungen sind keine Einbahnstraße. Viele Ärzte wissen um den Einfluss des Internets auf das Image ihrer Praxis. Laut einer Jameda-Umfrage leitet jeder zweite Arzt sogar Maßnahmen für seine Praxis ab. „Oft sind es softe Faktoren wie Mitarbeiterschulungen oder die Verbesserung der Praxisorganisation. Aber natürlich gibt es auch Ärzte, an denen negative Kritik abprallt, weil sie meinen, dass Patienten das nicht beurteilen können.“
Gegen gefälschte Bewertungen geht Jameda laut eigener Auskunft rigoros vor. So prüft ein Algorithmus automatisch alle Bewertungen noch vor der Veröffentlichung auf technische wie sprachliche Auffälligkeiten und kann feststellen, ob ein Patient einen Arzt mehrfach bewertet hat, ob Agenturen dahinterstecken oder Ärzte sich selbst bewerten. Manipulationsversuche im größeren Stil können so zuverlässig herausgefiltert werden – immerhin zehn Prozent der eingehenden Bewertungen.
Viele Patienten wie beispielsweise Manfred Scheer wissen aber auch, dass sie die Online-Bewertungen realistisch einschätzen müssen – denn was für den Staubsaugerkauf gilt, gilt auch bei der Arztwahl. Der 72-Jährige hat sich wegen seines Nierentumors erst über seinen Arzt online informiert, als er bereits wusste, wer ihn behandelt. „Diese Bewertungen können auch sehr verwirrend sein. Manche geben ihm eine Eins, andere sagen, sie würden nicht zu ihm gehen. Und tatsächlich ist er im Umgang mit seinen Patienten etwas ruppig, aber das hat mich nicht weiter gestört, weil er einfach ein guter Diagnostiker und sehr gründlich ist.“
Doch nicht alle Betroffenen sind so rational. Während man früher Ärzte vor allem ihrer fachlichen Kompetenz wegen geschätzt hat, werden heute auch sogenannte „Soft Skills“ wie die kommunikative Kompetenz und Einfühlvermögen immer wichtiger. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Ausbildung der Mediziner.

Maßnahmen für die Ausbildung von Ärzten

Studenten in Marburg üben beispielsweise in Rollenspielen im Rahmen eines Ethikseminars, wie sie Patienten und ihren Angehörigen schlechte Nachrichten überbringen und wie Untersuchungstechniken einfühlsam und verständlich erklärt werden.
Die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster setzt noch früher an: Schon die Bewerber fürs Medizinstudium werden seit einigen Jahren mit einem Parcours auf ihre Soft Skills überprüft – ein Abitur-Durchschnitt von 1,0 ist alleine keine Garantie mehr für einen Studienplatz. Vor allem schauen die Juroren darauf, wie gut die Bewerber mit Patienten umgehen können. Denn: Patienten werden nachweislich schneller gesund, wenn sie von ihrem Arzt Empathie, Verständnis und Respekt erfahren. Das Gespräch zwischen Arzt und Patient ist deshalb ein wichtiger Faktor. Und kann alleine dadurch nicht durch das Internet ersetzt werden. Was nicht heißt, dass der Numerus Clausus abgeschafft werden würde – im Gegenteil. „Der Parcours ist ein zusätzliches Auswahlkriterium, er ersetzt die Abiturnote aber nicht – Schließlich hat sich die Zahl der Schulabgänger mit einer Abiturnote von 1,0 in den letzten Jahren vervierfacht“, erklärt der Studiendekan der Medizinischen Fakultät, Bernhard Marschall.

Auswirkungen auf die Behandlung

Aber nicht nur das Vorwissen der Patienten und die soziale Kompetenz der Ärzte haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. Durch die Digitalisierung erleben auch die mediale Kommunikation und die Behandlung eine Transformation: Das Fernbehandlungsverbot steht aktuell auf der Kippe und könnte ermöglichen, dass Patienten sich per Telefon oder Videochat von einem Arzt behandeln lassen, dem man zuvor noch nie persönlich begegnet ist. Auch das dürfte Einfluss auf das Vertrauensverhältnis und die langfristige Bindung zwischen Patienten und ihren Ärzten haben – positiv wie negativ. Patienten könnten möglicherweise schneller einen Arzt wechseln, wenn sie unzufrieden sind, oder sich einfacher eine Zweit- und Drittmeinung einholen. Ärzte würden dann immer mehr als Dienstleister angesehen werden – und immer weniger als Halbgötter in Weiß. Aber das wäre sicher nicht die schlechteste Entwicklung. Weder für die Patienten noch für die Ärzte.
 
Veröffentlicht am 02.07.2018