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3. Station der Pflege-Serie: Karlsruhe

Plötzlich pflegebedürftig

70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. So auch Karl-Heinz Jorga, den mit 46 Jahren ein Schlaganfall an den Rollstuhl fesselte. Seitdem kümmert sich seine Frau Ulrike um ihn. Zu Besuch bei zweien, die sich vom Schicksal nicht unterkriegen lassen.

„Seemann“, sagt Ulrike Jorga tadelnd und schiebt eine Packung Taschentücher über den Tisch, „das kannst du alleine.“ Bevor ihr Mann Karl-Heinz danach greift, schüttelt er schmunzelnd den Kopf: „So ist das immer. Sie traut mir mehr zu als ich selbst“, sagt er mit leiser Stimme. Tatsächlich ist es für den 59-Jährigen eine Herausforderung, sich selbst die Nase zu putzen: Seit einem Schlaganfall im Jahr 2003 sitzt er im Rollstuhl. Seine linke Körperhälfte ist gelähmt, die rechte Gehirnhälfte zu einem Drittel zerstört und in seinem Behindertenausweis steht jene Drei, die schwerste Fälle kennzeichnet. Nach einem Abend mit Freunden ist es passiert. Während Ulrike in der Küche Kuchen für das Dessert aufschneidet, kippt Karl-Heinz einfach um. Seine Frau reagiert schnell, kennt die Symptome von ihrem Vater. Kaum 20 Minuten später ist ihr Mann in der Klinik. Weil alles so schnell ging, schicken die Ärzte sie mit beruhigenden Worten nach Hause.
Doch als am nächsten Morgen das Telefon klingelt, bleibt die Welt stehen: Koma, Hirnschaden, akute Lebensgefahr. Das Blutgerinnsel in Karl-Heinz‘ Adern ist so groß, dass die Behandlung versagt hat. „Falls er wieder aufwacht, wird er ein Leben lang schwerstbehindert sein“, sagen die Ärzte. Es sei außerdem wahrscheinlich, dass Karl-Heinz sich charakterlich verändern werde. „Mein Vater wurde nach seinem Schlaganfall ein richtiger Stinkstiefel. Ich hatte große Angst, dass ich auch meinen Mann nicht wiedererkennen würde“, erinnert sich Ulrike. Sie greift nach seiner Hand. „Ich habe einen Teddybären geheiratet, den liebsten Mann der Welt.“

Zwischen Pflege und Papierkrieg

Als die Krankheit zuschlägt, läuft im Leben gerade alles gut für die beiden. Ulrikes Architekturbüro floriert, Karl-Heinz ist als Dozent bei der Arbeitsvermittlung tätig. Sie denken darüber nach, ein Kind zu adoptieren, weil sie selbst keine bekommen können. In Karlsruhe haben sie sich ihre Traumwohnung gekauft – atemberaubender Ausblick, helle Räume und ein riesiges Grundstück, auf dem Ulrike nach Herzenslust gärtnern kann. Doch der Schlaganfall ändert alles: Noch während Karl-Heinz im Krankenhaus liegt, verkauft Ulrike die Immobilie. Nächtelang hat die Architektin Pläne gezeichnet, wie man es behindertengerecht umbauen könnte. Doch die einst so geliebte Wendeltreppe, die vielen Etagen und der große Garten sind nun ein unüberwindbares Problem. Als Karl-Heinz die Klinik nach sechs Monaten verlassen kann, ziehen sie in eine behindertengerechte Wohnung in Pfinztal. Ihren Job hat Ulrike da bereits aufgegeben, die Pflege ihres nun zwangsverrenteten Mannes ist ein Fulltime-Job. Damit ist sie nicht allein. Laut einer aktuellen Studie arbeitet nur ein Drittel der pflegenden Angehörigen weiter, meist in Teilzeit. Kein Wunder: Ulrike Jorga bewältigt nicht nur den Pflegealltag mit ihrem Mann – sie hievt ihn vom Bett in den Rollstuhl, legt seine Kompressionsstrümpfe an, wäscht ihn, wechselt seine Windeln und den Blasenkatheter, kocht für ihn, zieht ihn an, deckt ihn zu, liest ihm vor und nimmt ihn überall hin mit, weil er nicht alleine bleiben kann. Sie stemmt auch den gewaltigen Papierkrieg, den seine Pflege mit sich bringt. Rezepte, Anträge, Nachweise, Genehmigungen, die Organisation des Pflegedienstes – ständig gibt es etwas zu tun. „Ich könnte problemlos eine Sekretärin beschäftigen“, sagt die quirlige Frau und streichelt Katze Mimi über den Kopf, die um die Räder des Rollstuhls schleicht.

Bis zum letzten Cent: Mit der Pflege kommt der finanzielle Ruin

Dass auf einmal beide nicht mehr arbeiten können, wird schnell zum Problem. „Wir hatten eine Eigentumswohnung, Vermögen und Vorsorge“, sagt Ulrike Jorga, „doch heute leben wir von Sozialhilfe.“ Der Staat zwingt sie, jeden Cent Erspartes aufzubrauchen, sogar Karl-Heinz‘ Lebensversicherung und ihre private Rentenvorsorge muss sie mit hohen Verlusten auflösen. Erst als alles weg ist, bekommen die Jorgas finanzielle Unterstützung. Heute jonglieren sie mit Bürgergeld, Pflegegeld, Rente, Versicherung und Unterstützung vom Landratsamt. Einfach ist das nicht. Seit einem Zusammenbruch vor zwei Jahren und anschließender Psychotherapie gönnt sich Ulrike zum Beispiel mehr Pflegedienst-Einsätze. Das kostet Geld, weshalb nun das Auto auf der Kippe steht. Doch nur der umgebaute Citroën sichert den beiden etwas Mobilität. Nächsten Monat muss das Auto in die Werkstatt, dann wird man weitersehen. „Wir rechnen mit spitzem Bleistift, aber ich will mich nicht beschweren. Wir haben es schön, können leben – und wir haben uns.“
Sich zu haben ist ihr Geheimnis. Der Schlaganfall hat Karl-Heinz vieles genommen, aber sein Wesen hat sich entgegen aller Prognosen nicht verändert. „Wir sind immer noch ein Paar und nicht nur Pfleger und Patient“, sagt Ulrike. „Nicht wahr, Seemann?“ Der Kosename stammt aus einer anderen Zeit. Früher ist Karl-Heinz, der stattliche 1,90-Meter-Mann mit den wasserblauen Augen und dem weißen Schnauzbart, als Maschinenschiffsbauer zur See gefahren. Er hat die ganze Welt gesehen und viele Abenteuer erlebt. Gerne schwelgen die beiden noch heute in den Erinnerungen: der Piratenüberfall in Singapur, der Gefängnisaufenthalt in Indonesien, der Eisbär, der von Hamburg nach Tokio befördert werden musste. „Wir haben schon so viel erlebt, dass wir noch immer davon zehren“, sagt Karl-Heinz. Er spricht langsamer als früher, kann sich aber klar verständigen. Der Drang, aktiv zu bleiben, ist noch immer da. Oft stehen ihm Probleme wie fehlende Behindertenparkplätze oder -toiletten, zu hohe Bordsteine oder Treppen im Weg. Trotzdem gelingt es den Jorgas und zwei Pflegern immer wieder, den Alltag aufzupeppen: Baumwipfelpfade, Museumsbesuche, Oktoberfest, Werksführung in der Schokoladenfabrik, Messebesuche, Pilze sammeln, Zirkusbesuch – an zwei Nachmittagen die Woche stehen neben Reha, Ergotherapie und Arztbesuchen auch solche Termine im Kalender. So übersteht sich der Freitag besser. Den verbringt Karl-Heinz in der Tagespflege, damit seine Frau ein wenig Zeit für sich selbst hat. Langweilig findet er es dort, „es sind nur lauter 80-Jährige da“, sagt er und lächelt schelmisch.
Veröffentlicht: 14.12.2015 
 

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Norderney: Pflege-Urlaub
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Duisburg: Technik für Pflege zu Hause
Dortmund: Eine Stadt vernetzt sich
Riedlingen: Zeitkonto

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